Im Zuge der globalen Corona-Pandemie gibt es auch vereinzelte Lichtblicke in der Wirtschaft: So kündigte Amazon im März an, weltweit 100.000 Mitarbeiter einzustellen. Und DHL spricht aktuell von einer Auftragslage wie kurz vor Weihnachten, nur, dass es eben nicht prognostizierbar war. Im Business-to-Business-Bereich herrscht dagegen bei vielen Unternehmen Stillstand.
So gehen die „Wirtschaftsweisen“ in ihrem Sondergutachten von Ende März davon aus, dass als Folge des „Shutdowns" das BIP im zweiten Quartal 2020 um 9,8 Prozent einbrechen wird. Dies sei der stärkste je seit Beginn der Vierteljahresrechnung im Jahr 1970 gemessene Rückgang in Deutschland und mehr als doppelt so groß wie jener während der Weltfinanzkrise im ersten Quartal 2009.
Im Moment weiß niemand verbindlich, wie lange der Shutdown andauern wird. Aber bereits jetzt ist klar, dass es zumindest in Europa keinen Tag X geben wird, an dem ein Schalter wieder auf Normalbetrieb umgelegt wird. Unabhängig davon, müssen Supply Chain Manager ihren Kollegen aus der Produktion immer in der Planung einen Schritt voraus sein. So stellt sich die Frage, an welchen Aufgaben der SCM-Experte zuerst arbeiten muss, um den Wiederanlauf vorzubereiten:
Übergreifende Aufgaben
- Lessons-Learned-Workshops durchführen
Auch wenn im SCM lieber nach vorn statt in den Rückspiegel geschaut wird, sollten sowohl auf Management- wie auch Sachbearbeiterebene Kurz-Workshops durchgeführt werden: Was lief intern gut? Was lief intern schlecht? Und wie war die Zusammenarbeit mit den Supply Chain Partnern?
- Erfolgreiche Provisorien zum Standard deklarieren
„Not macht erfinderisch“ – die Bedeutung dieses alten Sprichworts lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Im Zuge der kontaktfreien Empfangsbestätigung verzichten DHL, GO! und Co. derzeit auf die Kundenunterschrift bei der Zustellung. Kann man diese Prozessvereinfachung auch im Normalbetrieb beibehalten?
Zwar setzen gerade die deutschen Premium-Automobilhersteller auf einen weltweiten Bounce-Back-Effekt im Konsumverhalten, wie er sich in China gerade abzeichnet, in vielen Branchen wird sich der Wettbewerb jedoch neu gestalten, weil etwa liquiditätsschwache Start-ups aufgeben mussten. Das heißt, auch auf der Sales-Seite sind Ad-hoc-Maßnahmen zu ergreifen.
Demand Management
- Investitions- und Konsumverhalten der Kunden überprüfen
Schwenken die Kunden wieder zurück auf analoge Beschaffungsmuster oder ist der stationäre Vertrieb (vielleicht mit Ausnahme des Lebensmitteleinzelhandels) nun dauerhaft am Ende seines Lebenszyklus?
- E-Commerce-Absatzniveau halten oder sogar ausbauen
Mehr oder weniger aus den Umständen heraus setzen z. B. klassische Textilunternehmen wie Breuninger und Schiesser verstärkt auf Online-Handel und intensivieren über personalisierte Aktionen die Kundenansprache. Daher sollte die bisherige Dynamik bei den eigenen E-Commerce-Aktivitäten auch am Ende von Social distancing beibehalten werden.
Operations and Logistics Management
- Anlaufteams definieren
Als ob es sich um einen Neuanlauf handelt, müssen die Kapazitäten in der Lieferkette Schritt für Schritt ausgebaut werden: Teile beschaffen, Produktion in den eigenen Zulieferwerken hochfahren und schließlich die eigenen Montagestandorte. So hat etwa der VW-Beschaffungsvorstand angekündigt, demnächst seinen Wiederanlauf vorzustellen
- Montage- und Produktionsprozesse überdenken
Hier steht die Frage im Raum, wie Mitarbeiter, die bisher räumlich sehr nah zusammen gearbeitet haben, in Zukunft mehr Abstand zueinander halten können. Hier geht es etwa um den Einsatz von Mensch-Maschine-Lösungen, z. B. bei der Bereitstellung am Band.
- Bestand an Hygieneartikeln und Desinfektionsmitteln für operative Mitarbeiter anlegen
Hygiene- und Sicherheitsstandards werden sich in allen Bereichen des beruflichen und täglichen Lebens verschärfen: Mindestabstände am Arbeitsplatz, jederzeitiger Zugriff auf Desinfektionsmittel und Schutzmaterialien entwickeln sich zum Must-have am Arbeitsplatz. Es bringt im Übrigen nichts, wenn große Unternehmen über entsprechendes Material verfügen, kleinere Lieferanten und Logistikdienstleister aber nicht.
Supplier Management
- Second Sources aufbauen
„Relokalisierung“ wird – zumindest bei Engpassteilen – zum Gegentrend kontinentaler Lieferketten. Hierdurch können lokale Mittelständler sich als Second source für Großabnehmer etablieren.
- Lieferverträge bzgl. Pandemie-Regelungen überprüfen und standardisieren
Auch im Fall einer Pandemie sollten klare Regelungen bzgl. Lieferpflicht und Schadenersatz herrschen. Der schlichte Verweis auf die „force majeure“ wird in Zukunft nicht mehr ausreichend sein.
- Kundenlager bei kritischen Teilen vertraglich vereinbaren
Supply Chain Manager sollten als weiteren Logistik-Aspekt die Zusage von Kundenlagern beim Lieferanten verhandeln, auch wenn dies vermutlich zu Teilepreiserhöhungen führen wird.
- Lieferantenbewertungskriterien überdenken bzw. neu gewichten
Im Zuge der Einführung eines Supply Chain Risk Managements haben vor allem Großunternehmen die Beurteilung von Liquidität und verfügbaren Kapazitäten in ihren Kriterienkatalog aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Wochen sind jene entweder zu ergänzen (im Mittelstand) bzw. im Hinblick auf die Gewichtung (Großunternehmen) zu überprüfen.
Nach der Krise ist vor der Krise!
Noch sind es nur einzelne Signale in Richtung einer Exit-Strategie in Deutschland, dennoch müssen gerade Supply Chain Manager und Logistiker immer einen Schritt in der Planung voraus sein. Dabei geht es weniger darum, besonders große Schritte nach der Krise zu tun, sondern die in die richtige Richtung! Denn in Anlehnung an die alte Fußballweisheit gilt: Nach der Krise ist vor der Krise! Auch wenn dies vermutlich allzu oft in der Hektik vergessen wird.
Prof. Dr. Dirk H. Hartel, geboren 1972 in Eschwege/Nordhessen, arbeitet seit 2007 als Professor für Logistik und Supply Chain Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, wo er den Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement leitet. Dirk Hartel absolvierte zunächst ein Duales Studium in Kooperation mit Siemens Nixdorf und studierte BWL parallel zu einer Tätigkeit bei Siemens im regionalen Marketing an der Universität Lüneburg. Von 1998 bis 2002 promovierte er bei Professor Wildemann an der TU München. Danach arbeitete er mehrere Jahre als Consultant für Supply Chain Management, Logistik und Organisation bei einer mittelständischen Unternehmensberatung in München, seit 2006 als Partner. Dr. Hartel übt Lehrtätigkeiten an privaten Universitäten und Hochschulen aus und ist nebenberuflich als Berater, Referent und Trainer tätig.
Veröffentlichungen in den Themenfeldern Logistik, Supply Chain Management, Supply Chain Risk Management, Outsourcing und Consulting, z. B. Bücher zu „Consulting und Projektmanagement in Industrieunternehmen“ (2009), „Fallstudien in der Logistik“ (2012), "Consultant-Knigge" (2013), "Logistics and Supply Chain Management - A German-Indian Comparison" (2017) sowie „Projektmanagement in Logistik und Supply Chain Management“ (2019).