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Krisenbewältigung in der Automobilindustrie während und nach COVID-19

Geschrieben von Prof. Dr. Dirk H. Hartel | 3. Februar 2021

Je länger die Pandemiesituation anhält, desto widersprüchlicher fallen die Aussagen hinsichtlich der Zukunft in der automobilen Logistik aus. Einerseits könnte man sehr zuversichtlich sein: So geht Precedence Research in seinem Oktober-Gutachten 2020 davon aus, dass der globale Automobillogistikmarkt bis 2027 jährlich um 5,6 % steigen wird.  Andererseits spricht das vor kurzem veröffentlichte Allianz Risikobarometer von einem „COVID-Trio“ aus Betriebsunterbrechung, Pandemien und Cyberattacken. Insbesondere Betriebsunterbrechungen, also Lieferkettenprobleme, stehen 2021 wieder an erster Stelle möglicher Risiken. 

Die Frage ist nun: Geht es weiter wie bisher oder ist in Zukunft alles anders? Zeigt sich die Zukunft „rosarot“ oder nach dem Motto „Es wird noch kritischer in der automobilen Supply Chain“? Der hier feststellbare scheinbare Widerspruch erscheint typisch für die VUCA-Welt ("volatility" = Volatilität, "uncertainty" = Unsicherheit, "complexity" = Komplexität und "ambiguity" = Mehrdeutigkeit), die bereits vor Corona die Automobilindustrie beeinflusste. Daher lässt sich die Frage auch nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung beantworten, denn manche Herausforderungen in der Lieferkette bleiben bestehen, während andere neu im Zuge von Pandemien hinzukommen. Im Folgenden soll auf jeweils drei ausgewählte Aspekte eingegangen werden, die auch in Zukunft Bestand haben werden und drei beispielhafte, die zu einem Umdenken führen bzw. geführt haben.

Weiter wie bisher!

1. Supply Chain Visibility

Es gibt kaum eine andere Branche, in der die Lieferkette so komplex strukturiert ist wie die Automobilbranche. Wenn ein Neuwagen mit klassischem Antrieb aus mehreren tausend Teilen besteht und ein Tier-1-Lieferant wie Bosch über 26.500 Lieferanten in 52 Ländern verfügt, so wird hieran die Bedeutung von Transparenz in der Supply Chain deutlich. Hatte „visibility“ noch vor fünfzehn Jahren etwas visionär-abstraktes an sich, gibt es heute Tools, wie den Control Tower der Lila Logistik, die als Dashboard in Echtzeit den Überblick über die Lieferkette nicht nur gewährleisten, sondern auch der verkehrsträgerübergreifenden Planung, Steuerung und Monitoring von Transporten dienen. Schließlich ist die Transparenz an sich noch kein Wert, sondern lediglich Grundlage für die richtigen logistischen Entscheidungen.

2. China - Automobiler Weltmarkt Nr. 1 im asiatischen Jahrhundert

Anfang 2020 gab es durchaus Experten, die im Zuge der als „China-Virus“ titulierten Pandemie das Ende des Wachstumsmotors und größten Absatzmarkts für Neufahrzeuge voraussagten. Am Ende fiel der Rückgang mit sechs Prozent auf gut 20 Mio. neue Pkw dann eher moderat aus, vergleicht man ihn mit minus 19 Prozent in Deutschland 2020. Auch wenn der chinesische Markt auf hohem Niveau stagnieren könnte, wird er an relativer Bedeutung als Beschaffungs-, Produktions- und Absatzmarkt gewinnen. Dies ist einerseits ein positives Zeichen für Supply Chain Manager, um Rückgänge in anderen Regionen zu kompensieren, andererseits verkomplizieren neue Regularien und Handelsbarrieren, etwa zwischen China und den USA, den Global Trade.

3. Operative Exzellenz

Trotz eines differenzierten Supply Chain Risk Managements werden zukünftig verstärkt Risiken auftreten, die sich nicht vorhersehen lassen. Hierfür sind einerseits resiliente Supply Chains erforderlich, andererseits auch eine operative Exzellenz, die auch bei sehr schwierigen Rahmenbedingungen dafür Sorge trägt, dass das jeweilige Glied der Lieferkette wirtschaftlich handelt. Im Zuge von Lean-Management-Initiativen in vielen Unternehmen eingeführt, muss gerade in Zeiten von COVID-19 gewährleistet werden, dass „schlank“ nicht mit „magersüchtig“ bei der Ressourcenplanung von Personal und Anlagen verwechselt wird.

Neben dieser drei Konstanten gibt es aber auch zahlreiche Aspekte, die nicht mit einem „weiter wie bisher!“ in der Post-Corona-Zeit beantwortet werden dürfen. Auch hier soll auf drei ausgewählte Themenfelder näher eingegangen werden.

In Zukunft anders!

1. Bestandsmanagement - Intelligente Engpassorientierung

Im Gegensatz zur „Operativen Exzellenz“ als Teil des Toyota Production Systems gilt das Mantra des „Bestände müssen runter“ in Corona- und Post-Corona-Zeiten nicht mehr uneingeschränkt. Gerade im Automotive-Umfeld ist erkennbar, dass frühere Ziele wie eine Bestandsreichweite von weniger als einem Tag, ein durchaus übliches Ziel bei zahlreichen OEM-Montagewerken, inzwischen als zu ambitioniert, sprich überholt, einzustufen sind. Corona hat indes aufgezeigt, dass Bestandsmanagement nicht mit Bestandssenkung gleichgesetzt werden darf. Vielmehr sind Engpass-Lieferanten und -materialien entlang der Lieferkette zu identifizieren und im nächsten Schritt dort gezielt Bestände aufzubauen. Dass auch namhafte OEMs nicht vor solchen Bottlenecks verschont bleiben, zeigt der aktuelle Mangel an Halbleitern insbesondere aus Asien, der zu Produktionsstopps und Kurzarbeit bei Daimler, VW, Audi und Ford im Januar und Februar führt.

2. Glokal – Das neue Global

Während es bei Semiconductors kaum Optionen zu regionaler oder gar lokaler Beschaffung gibt, empfiehlt sich bei anderen Beschaffungsquellen schon eher ein Überdenken der üblichen „Global Sourcing“-Beschaffungsstrategie. Ähnlich wie bei Just-in-Time und Just-in-Sequence in der Logistik sollte auch Global Sourcing nicht die einzige zu verfolgende Einkaufsstrategie sein. Der Trend zu „glokal“ führt sicher nicht dazu, dass in Zukunft aus Risikogründen wie weiland wieder alles „rund um den Kirchturm“ beschafft wird. Sucht man aber ernsthaft die günstigste Beschaffungsquelle und nicht den niedrigsten Teilepreis, sollten TCO-Modelle zum Einsatz kommen, die potenzielle Betriebsunterbrechungen seriös kalkulieren und in die Wahl des besten Lieferanten einfließen lassen. Klassische Boni-Systeme, die sich ausschließlich an den Materialkosteneinsparungen des Einkäufers orientieren, führen dann zu Fehlsteuerungen und der am Ende teureren Lieferantenwahl. Die Verwerfungen in der Lieferkette sind somit ein guter Anlass, die derzeitigen Beschaffungsstrategien zu überdenken.

3. Herausforderung in der Logistik - Elektromobilität

Der Trend zum Elektroantrieb erfordert nicht nur ein Umdenken in den F&E-Abteilungen der Automobilhersteller oder bei potenziellen Kunden und der Gesellschaft, sondern führt auch zu neuen Anforderungen in der Transport- und Lagerlogistik. Dies fängt bei immer schwereren "finished goods" als Hybrid oder Vollstromer an, die von A nach B zu transportieren sind und endet noch nicht bei der adäquaten Lagerung von HV-Batterien. Damit steigen die logistischen Anforderungen an das Lager- und Transportgut wie der Aufbau von Ladestationen bei Fahrzeuglogistikern oder neue Sicherheitsvorkehrungen. Andererseits verfügen Elektroautos über weit weniger Komponenten, was wiederum zu einer Vereinfachung der Lieferkette führt. So stellte der BMW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Manfred Schoch bereits 2017 fest: „Ein Achtzylindermotor hat 1.200 Teile, die montiert werden müssen, ein Elektromotor nur 17 Teile." Aus Sicht der Logistikdienstleister müssen hier freie Kapazitäten mittelfristig anders ausgelastet werden. Neue Herausforderungen ergeben sich schließlich auch am Ende des Batterie-Lebenszyklus, was für neue Geschäftsmodelle in der automobilen Redistributionslogistik führen wird (Aussortierung, Aufbereitung, Rückgewinnung, …).

Fazit: Ein klares Sowohl-als-auch!

Die globale Automobilindustrie befindet sich nicht nur wie 2009 in einem konjunkturellen Umbruch, sondern in einem strukturell-disruptiven, der sämtliche Glieder der Lieferkette betrifft. Hieraus ergeben sich Chancen wie auch Risiken. Unabhängig davon, wie man die Situation für das eigene Unternehmen bzw. Unternehmensumfeld einschätzt, bleibt die Erkenntnis, dass die Relevanz eines effektiven und effizienten Supply Chain Managements – auch nach COVID-19 – weiter steigen wird. So kam bereits Martin Christopher, emeritierter britischer Professor für Marketing und Logistik, vor fast 30 Jahren zu der Erkenntnis: „Supply chains compete, not companies."

 

Prof. Dr. Dirk H. Hartel, geboren 1972 in Eschwege/Nordhessen, arbeitet seit 2007 als Professor für Logistik und Supply Chain Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, wo er den Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement leitet. Dirk Hartel absolvierte zunächst ein Duales Studium in Kooperation mit Siemens Nixdorf und studierte BWL parallel zu einer Tätigkeit bei Siemens im regionalen Marketing an der Universität Lüneburg. Von 1998 bis 2002 promovierte er bei Professor Wildemann an der TU München. Danach arbeitete er mehrere Jahre als Consultant für Supply Chain Management, Logistik und Organisation bei einer mittelständischen Unternehmensberatung in München, seit 2006 als Partner. Dr. Hartel übt Lehrtätigkeiten an privaten Universitäten und Hochschulen aus und ist nebenberuflich als Berater, Referent und Trainer tätig.

Veröffentlichungen in den Themenfeldern Logistik, Supply Chain Management, Supply Chain Risk Management, Outsourcing und Consulting, z. B. Bücher zu „Consulting und Projektmanagement in Industrieunternehmen“ (2009), „Fallstudien in der Logistik“ (2012), "Consultant-Knigge" (2013), "Logistics and Supply Chain Management - A German-Indian Comparison" (2017) sowie „Projektmanagement in Logistik und Supply Chain Management“ (2019).

MÜLLER | DIE LILA LOGISTIK beim Forum Automobillogistik

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